Montag, 13. Oktober 2008

Der Koffer


Die Schiebetür öffnet sich. Mit einer atemlosen Bewegung zwängt sich Rosianna durch die schmale Öffnung, die sich wie ein Schrein vor ihr auftut. "Tabernakel", denkt sie und zieht ihren Koffer hinter sich her wie eine schwere Eisenkugel. Dazu trägt sie einen grünen Schal mit einem breiten lila Streifen. Ein junger Mann huscht an ihr vorbei und eilt an eines der hinteren Gleise. S-Bahn Richtung Osterburken. Die Tafel mit den Ankunftszeiten und Abfahrten wird aktualisiert. Einige der rotierenden Plättchen sind hängengeblieben. Noch einundzwanzig Minuten.
Die Luft über den Gleisen ist lau. Mit der Rolltreppe hat auch der Wind den Betrieb eingestellt. Der Beton ist noch aufgewärmt vom Geschwätz der Reisenden, ihren Umarmungen und Tritten. Die Läden haben schon geschlossen. Der Zeitschriftenladen existiert nicht mehr. Der Inhaber hat aufgegeben. Die übrigen Auslagen sind hinter Rollgittern verschwunden. Die Taschenreisepläne, der Kaffeewagen. Die messingfarbenen Zeiger der Bahnhofsuhr gehen im Kreis ohne sich umzudrehen. Niemand der dasteht sie zu verabschieden - für eine weitere Stunde. Das Zaumzeug richtet ihnen den Blick aus. Der Minutenzeiger wiederholt sich, wiederholt sich, weniger als einundzwanzig Minuten.
Wie Tran ergießt sich das Licht aus silbernen Schüsseln in die Bauchhöhle des Bahnhofs. Eine S-Bahn wartet auf Gleis 1. Letzte Passagiere, letzte Reisende steigen aus. "Ein gerissener Zwölffingerdarm", denkt sie. Am Zugang zu Gleis 3 ist eine Reklametafel ausgefallen. In Falten hängt das Plakat hinter der Scheibe. Ein Betrunkener mit Wollmütze auf den fettigen Haaren angelt mit seinem von Schmutz und Hornhaut dick gewordenen Finger nach einem Stückchen Bronzehaut.
Mit weißen Knöcheln zieht Rosianna ihr Buch aus der Tasche, steckt es in ihren Mantel, holt Schwung und lässt den Koffer auf das stille Gepäckband poltern. Das Gepäckband reagiert nicht. Müde zuckt eine Taube, die es sich auf dem grau getünchten Treppenabsatz bequem gemacht hat. Eine Ratte, dann zwei huschen über das Schotterbett. Wie ein ungehorsames Kind zerrt Maditha den Koffer hinter sich her. Mal nimmt sie zwei Stufen, dann wieder nur eine. Das ungehorsame Kind stolpert hinter ihr her. Eine der Rollen hat sich gelockert. Immer wieder schwankt sie, schwankt der Koffer. "Bitte zurücktreten, Durchfahrt an Gleis 4." Der rasende Zug nimmt Rosianna den Atem. eine Wand aus Wasser, eine Wand aus Staub. Der Sog zieht sie näher ans Gleis, zwei Schiffe die sich in einem engen Kanal begegnen.
Ihr Fuß spielt mit einem abgerissenen Schnürsenkel. Mit der Hand macht sie sich Knoten ins Haar. Unter einer Bank liegt ein Schnuller. Wo vorher Spucke war, kleben jetzt Staub- und Aschereste. Die Gleise, wie Quecksilberschnüre, liegen nur da. Eine Frauenstimme kündigt den einfahrenden Zug an.
Aus der Türöffnung dringt der konservierte Atem der Reisenden, der Geruch von Koffern und dem mit Gummi unterlegten Teppichboden. Sie wuchtet ihren Koffer erst auf die unterste Stufe, dann auf die nächste. Als sie nach dem Handlauf greift, schließen sich die Türen. Ihr Koffer steht im Foyer. Der Schaffner pfeift. Das Signal zur Weiterfahrt. Der Koffer schwankt, als sich der Zug in Bewegung setzt. Auf dem Bahnsteig liegt ein Buch. Jemand muss es verloren haben.